Im letzten November betrat ich nach mehreren Monaten Abwesenheit erneut die virtuelle Bühne der World of Warcraft.
Meine Rollenspiel-Gemeinschaft (Gilde) feierte ihr einjähriges Bestehen und als Gründer wurde ich zum Festmahl in die Taverne „Zum Eremiten“ in der Metropole Sturmwind geladen.
Da saß ich also vor ein paar Dutzend echten Menschen in ihren virtuellen Personas (Masken) – aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Teenager, Twents, Ü30er und Ü40er – Schüler, Studenten, Arbeitslose, Mütter, Väter, Fachinformatiker und Projektmanager – ein bunter Mix in einer bunten Anderswelt.
Hier und Heute schaue ich auf weitere drei Monate Sozialleben in meiner virtuellen Gemeinschaft zurück. Erst vor drei Wochen fiel mir etwas wie Schuppen von den Augen, das die ganze Zeit über offensichtlich hätte sein müssen. Bis 1999 war ich als Pantomime, Clown und Moderator tätig und gab zahlreiche Workshops im kreativen Selbstausdruck und Theater. Vieles, das mir in den letzten Monaten auf der virtuellen Bühne begegnete, ist mir aus den damaligen physischen Bühnen vertraut.
Ist eine Medienpädagogik in sozialen Spielwelten etwa im Kontext der Theaterpädagogik besser aufgehoben ?
Wenn wir als 3D Schauspieler zum Beispiel zur letzten Wintersonnenwende einen Lichterzug inszenieren und als „Flashmob“ von 30 Darstellern einen „Bruch“ im üblichen Spielablauf der Warcraftler in Szene setzen, sich viele Spieler dieser seltsamen Gruppe anschließen, die mit Laternen langsam in eine Schneelandschaft wandert (üblicherweise wird in World of Warcraft nur gerannt und geritten) und dort im großen Kreis multi-religiöse Gebete zur Begrüßung des neuen Lichts spricht – gleichen wir dann nicht eher einer „sakralen“ Theatergruppe die mit Riten experimentiert ?
Wenn Studenten in ihrer Freizeit eine Führungsrolle als Ratsmitglied in einer Gilde übernehmen und ihre ersten positiven wie negativen Erfahrungen als politische Führungskraft machen, Entscheidungen treffen müssen, die eine vorherige Installation von Entscheidungsinstanzen benötigen (Mehrheitsbeschluss aller Mitglieder oder Konsens der Ratsmitglieder ? etc.) – finden wir darin nicht Elemente aus dem legislativen Theater wieder – aus dem Theater der Unterdrückten von Augusto Boal ?
Wenn ein junger, körperbehinderter Student sich als virtuelle Frau im Beziehungsleben mit anderen Frauen ausprobiert und dabei auf seine echten Eifersüchte, Verlustängste und emotionalen Kontrollmechanismen trifft, schenkt ihm dann dieses „Systemische Theaterspiel mit Hellinger Elementen“ – wenn es reflektiert wird – spielerisch erprobte Lebenserfahrung für sein Realleben ?
Wenn unsere virtuelle Theatergruppe unter dem Motto „Wir weigern uns, Feinde zu sein!“ das übliche Spielschema Allianz gegen Horde (oder z.B. Israelis gegen Palästinenser) bricht, Wege der Friedensbildung erprobt, Vorurteile und Fremdenhass thematisieren – praktizieren sie dann nicht ein Friedenstheater im geschützten Raum einer Konfliktsimulation ?
„Funktioniert denn Theater ohne Körper – rein virtuell – überhaupt ?“ mögen wir zweifelnd fragen. Was die inneren, manchmal sehr realistischen, emotionalen Erfahrungen durch das virtuelle, immersive Rollenspiel zeigen, spricht für ein klares „Ja!“. Was die „Köpertechnik“ betrifft, sind wir bildlich im Puppentheater gut aufgehoben. Auch in dieser Theaterform sehen wir den eigentlichen Schauspieler nicht, sondern nur seinen „Avatar“ – durch hauchdünne Fäden gelenkt. Im virtuellen Theaterspiel entspricht das den Icons, Tasten und Mausbewegungen, mit den wir z.B. Bewegungen wie Laufen, Rennen, Liegen, Sitzen, Tanzen und sogenannte Emotes wie Weinen, Zorn, Lachen wirken können. Auf dem Bild oben sehen wir auch die Requisite für den Lichterzug, die sich unsere Spieler zusammen besorgt haben: Kostüme, Laternen, Lagerfeuer, Lichtkegel, die erst dann auf der „Bühne“ erscheinen, wenn wir sie auslösen.
Meine zentrale These zu den virtuellen Spielwelten (MMO´s oder MMORPG – Massive Multiplayer Online Role Playing Games) ist, dass sie sich wunderbar als Sozialsimulationen eignen, weil sie durch ihre von echten Spielern geteilten Medienökologien mit riesigen Kontinenten, Markt Ökonomien, fiktiven Völkern, Gruppierungen und bewaffneten Konflikten ein Abbild der Realwelt sind. 100 Millionen Spieler weltweit, die 20h+ pro Woche in sozialen Spielwelten „leben“ – das macht 2 Milliarden Stunden pro Woche – eine unglaubliche, partizipatorische Bandbreite. Wenn es uns gelingt, auch nur einen Bruchteil dieser Stunden für eine simulierte, spielerische Beschäftigung mit den Themen der Realwelt abzuzweigen, liegt darin ein großer Wert.
Die Pädagogik hat die kreative Verantwortung und Chance, alternative Spielweisen innerhalb der vorhandenen Infrastruktur populärer Spiele zu entwickeln und anzubieten.
Bisher siedelte ich meine experimentelle Arbeit in den Sozialsimulationen im Bereich der kreativen Medienpädagogik an. Heute aber muss ich erkennen, dass ich mit der Theaterpädagogik, ihren wunderbaren Ansätzen und Wegen auf den virtuellen Bühnen besser bedient bin. Im ersten „Akt“ meiner neuen Ausrichtung experimentiere ich mit einer „Übersetzung“ der Techniken aus dem Theater der Unterdrückten in unsere virtuelle Bühnenwelt. Innerhalb von zwei Tagen haben sich bereits 10 Teilnehmer/innen zu einer wöchentlichen Virthuater-Gruppe in der World of Warcraft angemeldet
Mit großer Spannung erforsche ich also nun das Potential des Virthuaters als heilsames Lernspiel im Spiel und berichte in Kürze über die ersten Ergebnisse.